Hochleistungscomputer im Fliegenhirn

Was wäre eine Fußballweltmeisterschaft, wenn wir den rollenden Ball nicht vom Hintergrund unterscheiden könnten? Undenkbar! Schön wäre es dagegen, wenn der eigene Stürmer die Ballbewegung wie in Zeitlupe sehen könnte. […]

Was wäre eine Fußballweltmeisterschaft, wenn wir den rollenden Ball nicht vom Hintergrund unterscheiden könnten? Undenkbar! Schön wäre es dagegen, wenn der eigene Stürmer die Ballbewegung wie in Zeitlupe sehen könnte. Dieser Vorteil gehört jedoch den Fliegen. Die winzigen Gehirne dieser Flugakrobaten verarbeiten visuelle Bewegungen in Bruchteilen einer Sekunde. Wie das Fliegenhirn Bewegung mit solcher Geschwindigkeit und Präzision wahrnehmen kann, das beschreibt ein mathematisches Modell. Doch auch nach über 50 Jahren Forschung bleibt es ein Rätsel, welche Nervenzellen dazu im Fliegenhirn verschaltet sind. Jetzt haben Forscher des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie (MPG) erstmals die technischen Voraussetzungen geschaffen um die grundlegenden Mechanismen im Fliegengehirn zu entschlüsseln. Schon erste Untersuchungen zeigen, dass es noch viel zu entdecken gibt (Nature Neuroscience, 11. Juli 2010).

Bereits 1956 wurde ein mathematisches Modell entwickelt, das sehr genau beschreibt, wie Bewegungen im Gehirn von Fliegen erkannt und verarbeitet werden. Zahllose Versuche haben über die Jahre alle Annahmen dieses Modells bestätigt. Dennoch ist nach wie vor unbekannt, welche Nervenzellen in welcher Weise im Fliegenhirn miteinander verbunden sind, sodass sie wie im Modell arbeiten. „Uns fehlten einfach die technischen Möglichkeiten, um einzelne Zellen und ihre Verbindungen in diesem Fliegen-Hochleistungscomputer zu untersuchen“, sagt Dierk Reiff vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried. Das überrascht nicht, bedenkt man wie winzig der für das Bewegungssehen zuständige Bereich des Fliegenhirns ist: In einem Sechstel Kubikmillimeter Gehirn befinden sich über 100.000 Nervenzellen – und jede Zelle ist mehrfach mit ihren Nachbarzellen verbunden. Hier die Reaktion einer einzelnen Nervenzelle auf einen bestimmten Bewegungsreiz herauszufiltern, scheint nahezu unmöglich. Doch genau das haben die Martinsrieder Neurobiologen nun geschafft.

Das Fliegenhirn – besser als jeder Computer

Im Prinzip kann die elektrische Aktivität einzelner Nervenzellen mit feinsten Elektroden gemessen werden. Für diese Methode sind jedoch fast alle zu untersuchenden Nervenzellen im Gehirn der Fliege viel zu klein. Doch gerade dem Fliegenhirn wollten die Forscher seine Geheimnisse entlocken. Zum einen ist hier das Modell des Bewegungssehens am besten erforscht. Zum anderen sind die vergleichsweise wenigen Nervenzellen der Fliege hochspezialisiert und verarbeiten die Bilderflut während des rasanten Fluges mit unglaublicher Präzision. So können Fliegen eine Vielzahl von Informationen über Eigen- und Umweltbewegung in Echtzeit verarbeiten – etwas, dass so kein heute existierender Computer leisten könnte, erst recht nicht, wenn er so winzig wie im Fliegenhirn wäre. Ein klarer Anreiz also, das System zu entschlüsseln.

Fluoreszenz-Moleküle und modernste Mikroskope

„Wir mussten einen Weg finden, die Aktivität dieser Nervenzellwinzlinge ohne die Hilfe von Elektroden zu beobachten“, beschreibt Dierk Reiff eine der Herausforderungen. Diese Hürde nahmen die Forscher nun durch den Einsatz modernster genetischer Methoden bei der Fruchtfliege Drosophila melanogaster. Es gelang, einzelne Nervenzellen der Fruchtfliege mit einem Indikator-Molekül auszustatten. TN-XXL macht durch Änderung seiner Fluoreszenzeigenschaften die Aktivität von Nervenzellen sichtbar (Informationen zur Funktion von TN-XXL unter „Weiterführende Links“).

Um zu untersuchen, wie Fruchtfliegenhirne Bewegungen verarbeiten, zeigten die Neurobiologen den Fliegen sich bewegende Streifenmuster auf einem Leuchtdioden-Bildschirm. Die Nervenzellen im Gehirn der Fliegen reagierten auf diese LED-Lichtreize mit Aktivität, was wiederum zu Änderungen im Leuchtverhalten des Indikator Moleküls führte. Obwohl TN-XXL deutlich heller ist als bisherige Indikator-Moleküle, war es lange Zeit unmöglich, die immer noch sehr geringe Lichtmenge einzufangen und vom LED-Lichtreiz zu trennen. Nach einigem Tüfteln fand Dierk Reiff jedoch die Lösung, indem er das Zwei-Photonen-Laser-Mikroskop mit dem LED-Bildschirm im Genauigkeitsbereich von Mikrosekunden synchronisierte. So konnte das TN-XXL Signal vom LED-Licht getrennt und vom Zwei-Photonen-Mikroskop selektiv gemessen werden.

Die Zellen hinter dem Modell

„Nach über 50 Jahren haben wir nun endlich die technischen Möglichkeiten geschaffen, um den zellulären Aufbau des Bewegungsdetektors im Fliegenhirn zu untersuchen“, schwärmt Alexander Borst, der mit seiner Abteilung am Max-Planck-Institut für Neurobiologie dieses Ziel schon seit Jahren verfolgt. Wie viel noch zu entdecken ist, zeigte gleich der erste Einsatz der neuen Methoden. Die Wissenschaftler beobachteten die Aktivität von L2-Zellen, die Informationen von den Fotorezeptoren des Auges erhalten. Die Fotorezeptoren reagieren, wenn die Lichtintensität zu- oder abnimmt. Ganz ähnlich sieht die Reaktion der L2-Zelle in dem Zellteil aus, der diese Informationen vom Fotorezeptor aufgreift. Die Neurobiologen fanden heraus, dass die L2-Zelle diese Information umwandelt und vor allem Information über Helligkeitsabnahmen an nachfolgende Nervenzellen weitergibt. Diese wiederum errechnen daraus die Bewegungsinformation. „Das bedeutet, dass die Information „Licht-an“ von den L2-Zellen herausgefiltert wird“, fasst Dierk Reiff die Entdeckung zusammen. „Es bedeutet aber auch, dass ein anderer Zelltyp „Licht-an“ weitergeben muss – die Fliege reagiert ja auf beides.“

Nachdem nun der erste Schritt getan ist, wollen die Wissenschaftler mit den neuen Methoden den Bewegungsdetektor im Fliegenhirn Zelle für Zelle untersuchen und so die Arbeitsweise der beteiligten Nervenzellen aufklären. Auch die Kollegen aus dem gemeinsamen Robotics-Projekt freuen sich schon auf die Ergebnisse.