Industriestandorte prägen den Menschen und seine Umwelt und zählen damit zu den wichtigsten Faktoren für die wirtschaftliche Entwicklung und das soziale Gefüge einer Region. Für Unternehmen erwächst daraus eine Verantwortung, die zumeist mit dem Gedanken nachhaltigen Handelns und Wirkens in Strategien und Leitbilder eingegangen ist. Doch ihr Erfolg wird noch zu oft an betriebswirtschaftliche Kennzahlen gemessen. Wissenschaftler der Technischen Universität Braunschweig (TU BS) haben nun Methoden entwickelt, mit denen erstmals die Nachhaltigkeit eines gesamten Industriestandortes bewertet und zertifiziert werden kann.
Eine Verbindung zwischen Industrie und Nachhaltigkeit ist keine neue Erscheinung: Denn als in England die Dampfmaschine erfunden wurde, prägte ein Sachse ungefähr zur selben Zeit eben jenen Begriff, der ein ressourcenschonendes und bewahrendes Handlungsprinzip definierte; vorerst in der Forstwirtschaft. Es dauerte allerdings noch einige hundert Jahre, bevor der Gedanke auch in anderen Teilen der Wirtschaft Einzug hielt. Insbesondere Großunternehmen hätten den Nachhaltigkeitsgedanken in vergangenen Jahren in ihren Leitbildern und langfristigen Geschäftsstrategie aufgegriffen, erläutert Prof. Uwe Dombrowski. Jedoch, so der Leiter des Instituts für Fabrikbetriebslehre und Unternehmensforschung (IFU) der TU Braunschweig weiter, beeinflusse dieser Grundsatz das tägliche Geschäft der Produktion bislang nicht ausreichend. „Fabriken werden nicht nach Erfolgen für Ökologie oder Gesellschaft bewertet, sondern anhand betriebswirtschaftlicher Kennzahlen wie Produktivität und Durchlaufzeit. Die Nachhaltigkeit ist somit ein abstrakter Begriff aus der Unternehmensvision, dessen Quantifizierung bisher noch nicht ausreichend umgesetzt ist“, erläutert Prof. Dombrowski.
Es sei notwendig, die ökologische, ökonomische und soziale Dimension produzierender Unternehmen über den gesamten Lebenszyklus des Industriestandortes zu betrachten, um im Sinne der bereits 1987 von der UNO verabschiedeten Definition über Umwelt und Entwicklung zu handeln, so Prof. Dombrowski weiter. Vor diesem Hintergrund initiierten das IFU der TU Braunschweig und Dr. Jan Spies, Leiter Fabrikstrukturplanung bei der Volkswagen AG, ein Forschungsprojekt, in dem erstmals eine unabhängige Methode zur Quantifizierung des Nachhaltigkeitspotenzials in den Dimension „Ökologie“, „Ökonomie“ sowie „Soziales“ entwickelt wurde. Gemeinsam mit weiteren Industriepartnern und in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen konnte die Methoden in ein bisher weltweit einmaliges Zertifizierungssystem überführt werden.
„Erstmals können wir unter diesen Gesichtspunkten einen gesamten Industriestandort, sozusagen vom Zaun bis zum Dach der Fabrikhalle bewerten“, erklärt Prof. Dombrowski. So haben Unternehmen jetzt die Möglichkeit, Wechselwirkungen zwischen Gebäuden, Logistikeinrichtungen und Logistikprozessen, der Fabrikumgebung sowie der Energie- und Versorgungstechnik zu identifizieren und zu quantifizieren, so der Professor weiter. „Produzierende Unternehmen können auf diese Weise konkrete Verbesserungsmaßnahmen zur Steigerung der Nachhaltigkeit des gesamten Industriestandortes ableiten“, ergänzt Prof. Dombrowski.
Die Forschungsarbeit von Prof. Dombrowski und seinem Mitarbeiter Christoph Riechel fand allerdings nicht nur in der Theorie statt. „Neben wissenschaftlichen Überlegungen und Konzeptionen im Institut war es wichtig, unsere Methoden an einem realen Produktionsstandort zu überprüfen“, erläutert Prof. Uwe Dombrowski das vorgehen. Dieser wurde den Braunschweiger Experten für Fabrikplanung von ihrem Forschungspartner Dr. Jan Spies zur Verfügung gestellt. „Wir bauen weltweit moderne Produktionsstätten und waren seit langem an einen Bewertungsverfahren für unsere Standorte interessiert, nicht nur für Deutschland“, erklärt Spies.
Mit dem Volkswagenstandort in Chemnitz kehrten Prof. Dombrowski und sein Mitarbeiter ausgerechnet in das Ursprungsland des Nachhaltigkeitsprinzips zurück. Doch das, so erklären die Fabrikplanungsexperten, sei nicht der Hauptgrund gewesen. Vielmehr konnten sie hier an einem modernen und gleichzeitig traditionsreichen Industriestandort ihre Methoden in der Praxis testen. „Mit unserem Chemnitzer Werk haben wir einen hochmodernen Standort bewertet, der eng mit seiner Umgebung verbunden ist. Genau diese Kombination macht das daraus entwickelte Zertifikat für nicht nur für neue, sondern auch für bestehende Industriestandorte wertvoll“, erklärt Dr. Spies.
Das aus der zweijährigen Forschungsarbeit hervorgegangene Zertifikat der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen konnte schon mehrfach durch unabhängige Auditoren an entsprechende Industriestandorte, so auch an Chemnitz, vergeben werden.
Bild: kordula – uwe vahle / pixelio.de
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.